Immer muss man sich ärgern

Zum Glück ist man nicht Bayern-Fan. Gähnende Langeweile bei der zwanzig plus x-ten Meisterschaft, beim 10 plus x-ten Pokalsieg und selbst beim 5 plus x-ten Champions-League-Triumph will keine rechte Stimmung aufkommen. Das Aufregendste ist stets der jährlich herausgebrachte neue Briefkopf, der ein, zwei oder auch mal drei zusätzliche Titeljahreszahlen enthält.

Wie viel aufregender ist es, Anhänger des Hauptstadt-Clubs Hertha BSC zu sein. Von Titeln keine Spur (außer „1930, 1931“, aber die übersieht man schnell). Aber die jährliche Höhe der Schulden, der jährliche neue Trainer, die jährlich verhökerten, in der Akademie ausgebildeten Talente: das macht schon was her.

Aufregung hat man aber auch im regulären Spielbetrieb. Gestern beispielsweise durfte man sich gleich dreifach aufregen: Erstens über den Schiedsrichter. Pfeift Freistoß für Darmstadt, nachdem zwei Spieler mit den Köpfen zusammenkrachen. Nun gut, der eine davon heißt Zeefuik, und wenn der in der Nähe ist, entscheidet der Schiedsrichter schon mal grundsätzlich auf Foul gegen ihn. Dabei ist Körpereinsatz im Fußball meines Wissens nicht verboten. Nun gut. Ausgleich als Folge eines Nichtfreistoßes in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Als Krönung wird in der zweiten Halbzeit der Führungstreffer von Hertha aberkannt, weil eventuell ein Handspiel vorgelegen haben könnte. Es gibt zwar keinerlei filmische Beweise für diese steile These, trotzdem stellt der VAR diese Behauptung in den Raum und der Schiedsrichter überprüft das nicht mal selber. Man könnte sich aufregen!

Auch wenn man sich noch so sehr über die Welt, die wie immer gegen einen ist, ärgert, man muss sich auch mal an die eigene Nase fassen. In diesem Fall bezieht sich der zweite Ärger auf den Spieler Ernst, der seine Arbeitseinstellung im Spiel gegen Darmstadt ohne selbigen (keine Namenswitze bitte, eigentlich) ausführte. Treffer zwei ( hohe Flanke zwei Meter vorm Tor) und drei (harmloser Weitschuss) gingen klar auf sein Soll-Konto. Da er sich ansonsten nicht allzu häufig auszeichnen konnte, muss man sich über die Torhüterleistung ärgern.

Damit nicht genug des Ärgers. Die ganze Mannschaft überließ dem Gegner nach einer starken halben Stunde, nach der man eigentlich höher als 1:0 hätte führen müssen, das Geschehen auf dem Platz. Folgerichtig kam der Gegner zu Möglichkeiten. Dass es ohne die zwei obigen Ärgernisse (Schiedsrichter, Torwart), doch zum Sieg gereicht hätte, spricht Bände, aber nicht für den Aufstiegswillen von Hertha. Im vorigen Spieljahr hatte man nach 12 Runden 16 Punkte, diesmal 17. Damals 8 bzw. 5 Punkte Rückstand auf 2. bzw. 3. Platz, dieses Jahr jeweils 4! Das liegt aber nicht an Herthas Stärke, sondern einzig und allein an den Schwächen aller Mitkonkurrenten. Wer mehr als zwei Schuljahre Mathematik-Unterricht genossen hat, kann sich ausrechnen, wo Hertha stünde, wenn die beiden Spiele gegen Köln und Darmstadt gewonnen worden wären. Nicht zu reden vom Spiel gegen Elversberg.

Ich könnte mich aufregen!

Könnte eng werden…

Gegen Köln gab es die (fast) erwartete Niederlage, gegen Heidenheim im Pokal den unerwarteten Sieg. Die Wiedergutmachung im Pokal könnte nicht lange auf sich warten lassen, da man Anfang Dezember in Köln antreten darf. Und da Hertha in dieser Saison auswärts sowieso erfolgreicher ist, stehen die Chancen auf einen Einzug ins Viertelfinale gar nicht mal so schlecht. Wiedergutmachung, was die Aufstiegsambitionen angeht, müsste Hertha schon am Sonnabend in Darmstadt betreiben. Aber erstens kann es mit der beinahe unheimlichen und für Hertha völlig untypischen Auswärtsstärke nicht ewig so weiter gehen und zweitens gehen Hertha so langsam die Innenverteidiger aus. Nachdem Brooks, Gechter und jetzt auch noch Leistner verletzt sind, bleiben nur noch Klemens (mit durchwachsenen Leistungen in seinen bisherigen Einsätzen) und Marton Dardai übrig. Da Dardai gegen Darmstadt nach seiner fünften Gelben Karte gesperrt ist, ist improvisieren angesagt. Aber in der U23 oder U19 wird sich sicher der eine oder andere Lückenstopfer finden.

Hertha liegt momentan zwar vier Punkte hinter dem selbstgesteckten Aufstiegssoll zurück, hat aber, da anscheinend in dieser Saison kein Team konstant genug ist, nur drei Punkte Rückstand auf Relegation und zweiten Tabellenplatz (im Vorjahr nach 11 Spieltagen jeweils sechs Punkte). Da kann Hertha also in Darmstadt den vielgerühmten Sprung nach oben machen. Und genau deshalb werden sie es nicht tun. Wenn alles normal läuft. Aber man ist ja Herthaner, obwohl so wenig an dem Verein „normal“ ist. Denn wo könnte man jetzt stehen, wenn man nicht 1:4 gegen einen Dorfverein wie Elversberg verloren hätte…

Kommt Hertha wirklich nach oben?

Hertha holte aus einem schwachen Heimspiel (Braunschweig) und einem starken Auswärtsspiel (KSC) sechs Punkte und ist erstmals seit dem Abstieg 2023 in Schlagdistanz zum Tabellenersten. Wer hätte das gedacht, dass man mit einer negativen Heimbilanz oben mitspielen kann? Und jetzt kommt ein kriselnder 1.FC Köln, der sowieso schon immer eine Wundertüte war, genau wie Hertha. Wie sind die Voraussetzungen? Hertha könnte ganz nach oben gehen: Steht also schlecht mit den Siegchancen. Das Wetter wird wohl äußerst bescheiden: Das erhöht die Chancen deutlich. Hertha hat ein schweres Pokalspiel am Mittwoch zu bestreiten: Auswirkungen für Sonnabend Abend unklar. Erwartungsvolle Fans: Ganz schlechte Voraussetzungen für einen Sieg. Neuer Trainer für Köln im Laufe der Woche? Bloß das nicht! Fassen wir realistisch zusammen: Es läuft alles auf ein Unentschieden hinaus. Den wirklichen Angriff auf die Spitze könnte Hertha dann ja nach dem nächsten Auswärtssieg in Darmstadt starten.

Eines muss aber völlig klar sein, auch wenn die Erwartungshaltung einiger naiver Fans nach entsprechenden Nachrichten riesig ist: Fabian Reese wird in beiden Spielen (Pokal und Köln) noch nicht mitwirken. Nach fast drei Monaten Verletzungspause kann man auf höchstem Niveau nicht nach ein paar Laufeinheiten mit Ballbalancieren mithalten. Weder Schnelligkeit noch Kondition sind momentan auch nur ansatzweise ausreichend. Im Gegenteil. Ein verfrühter Einsatz könnte unabsehbare Folgen haben, was Reeses Gesundheit angeht. Lassen wir ihm die Zeit, so dass ein erster Kurzeinsatz frühestens Mitte-, besser noch erst Ende November erfolgen sollte. Und wenn Hertha bis dahin schon mal an den Aufstiegsplätzen kratzen könnte, um so besser. Reese ist ja noch nicht fertig in Berlin, sagte er zu Saisonbeginn. Hoffentlich auch nicht nach der Saison.

Wenn das mal gutgeht…

Zum Beginn seiner Amtstätigkeit fiel Trainer Fiél in der Pressekonferenz dadurch auf, dass er konkrete Antworten auf konkrete Fragen gab. Wenn er gefragt wurde, ob der und der Spieler in der Startelf steht, antwortete er mit ja oder nein. Inzwischen kommt nur noch ein eindeutiges „Vielleicht“ aus seinem Mund, getreu der Devise der Fußballweisen Herberger und Dardai, dass sie dem Frager nach dem Spiel gerne Taktik und Aufstellung erklären würden, wenn er sie nicht mitbekommen habe.

Fiél unterscheidet sich da natürlich in keinster Weise von allen anderen Trainern, die Geheimnistuerei als ihren zweiten Vornamen nennen können. Erklärungen über Herthas rätselhafte Heimschwäche (ein Glückssieg in vier Spielen) konnte auch Fiél nicht geben, gab aber zu, dass er sich darüber am meisten ärgere. Gut, er weiß zwar nicht, wie sehr sich die Fans ärgern, klar ist aber, dass es für ihn ungemütlich werden könnte, wenn die nächsten Heimspiele auch verloren gehen, und bei ungemütlich ist nicht das traditionelle Berliner Novemberwetter gemeint, sondern sein Job. Bisher hat man vom Vorstand allerdings noch keine Jobgarantie gehört, was ja bekanntermaßen die Vorstufe zum alsbaldigen Rauswurf ist.

Fiél sagte zum Thema Heim/Auswärts nur, dass man auswärts Situationen anders löst als zuhause. Warum, ist ihm allerdings genauso unklar wie allen Zuschauenden. Der Forschung ist also Tür und Tor geöffnet. Arbeitet Hertha nicht mit Sportpsychologen zusammen? Eventuell könnten die das Dunkel etwas aufhellen.

Als regelmäßiger Stadiongänger hat man vor dem Spiel gegen Eintracht Braunschweig natürlich ein mulmiges Gefühl: Hertha könnte (zum wievielten Mal eigentlich?) im Siegfalle an den oberen Tabellenplätzen schnuppern, Flutlichtspiel bei traumhaftem Herbstwetter, ein Gegner aus unteren Tabellenregionen. Alle Zeichen stehen auf Sieg und in acht von zehn Fällen wird dann nicht gewonnen. Wenn das also mal gutgeht… Der 3:1-Tipp steht natürlich trotzdem felsenfest. Man kann ja nicht gegen die eigene Mannschaft tippen.

Was bringt Fiels Ballbesitzfußball?

Ahhhh! Ballbesitzfußball, falsche Neun, Schienenspieler, Umkehrfußball… wie unwichtig diese Begriffe und die entsprechende Umsetzung in der Wirklichkeit (aufm Platz) sind, hat Otto „der Große“ Rehhagel kurz und bündig erklärt: „Es gibt nicht modernen oder altmodischen Fußball, sondern nur erfolgreichen oder nicht-erfolgreichen Fußball“. Er spielte damals mit Libero und Manndeckung und wurde mit Griechenland Europameister. Die Laptoptrainer schäumten und Otto feixte sich eins.

Was hat das mit Hertha zu tun?

Pal Dardai wurde nicht mehr gebraucht, weil seine „Spielidee“ angeblich zu altbacken und unattraktiv sei! Was hat die Umstellung auf den modernen Fußball Fielscher Art gebracht, denn wir dürfen nicht vergessen, dass der Herr, der Dardai abschoss und Fiel holte, den Aufstieg ja schließlich als „alternativlos“ bezeichnet hat.

Nach sieben Spieltagen hatte Hertha vor einem Jahr 9 Punkte mit einer zusammengewürfelten Mannschaft, die mitten in der Findungsphase war. Heute sind es mit einem weitgehend eingespielten Team, mit einigen guten Ergänzungen (Demme, Cuisance) 10 Punkte. Allerdings lag man vor einem Jahr nach sieben Spieltagen jeweils 4 Punkte hinter dem 2., bzw. 3. Tabellenplatz zurück. In dieser Saison sind es jeweils 5 Punkte!

Die Punktezahl sagt aber nur bedingt etwas aus. Sehen wir doch mal spaßeshalber auf die Gegner damals und heute im Einzelnen (erste Zahl-aktuelle Saison, zweite Zahl Saison 23/24):

Heimspiele:

Paderborn 1:2 – 3:1

Regensburg 2:0 – 0:0 (Osnabrück)

Düsseldorf 0:2 – 2:2

Elversberg 1:4 – 5:1

Auswärtsspiele:

HSV 1:1 – 0:3

Kaiserslau. 4:3 – 2:1

Nürnberg 2:0 – 1:3

Es stehen also drei Heimpunkte aus vier Spielen (!) acht Heimpunkte unter der ach so langweiligen Spielidee Dardais gegenüber. Auswärts allerdings sieben Punkte gegenüber drei im vorigen Jahr.

Fazit: 10 Punkte in der laufenden „Aufstiegssaison“ gegenüber 11 Punkten in der Findungssaison. Irgendwas läuft da schief, Herr Herrich!

Wochen der Wahrheit

Nach dem grandiosen Auswärtssieg in Kaiserslautern ist alles angerichtet: Bei einem Sieg gegen Fortuna Düsseldorf mit zwei Toren Differenz kann Hertha die Rheinländer überholen und im günstigsten Falle die Tabellenspitze übernehmen. Auch wenn Hertha bisher erst in drei von acht Halbzeiten wie ein Spitzenreiter auftrat, zeigt die Tendenz eindeutig nach oben. Nach beiden Auswärtsspielen der noch jungen Saison (und dem Pokalspiel!) kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass Hertha nicht mindestens um den Aufstieg mitspielt. Die Spiele gegen Düsseldorf und anschließend in Nürnberg werden zeigen, wohin die Reise geht. Bisher war es ja meist so: Schönes Wetter, ein vollbesetztes Stadion und Optimismus bei allen Zuschauern – und Hertha wurde dem gefühlt in 90 Prozent aller Spiele nicht gerecht. Aber vielleicht gehört das Spiel gegen die Fortuna in diesem Jahr ja zu den anderen 10 Prozent.

Wenn anschließend in Nürnberg, wo Trainer Fiél ja noch einen Großteil der Spieler kennt, nicht verloren wird, könnte sich Hertha erstmal oben festsetzen. Und wenn dann noch ein gewisser Fabian Reese und ein Kevin Sessa zur Mannschaft stoßen, hat Fiél ein wirkliches Luxusproblem.

Jetzt müsste nur noch ein Gönner 70 Millionen spendieren, um die Anteile der Hertha KGaA zurückzukaufen, wie es die Hertha-Ultras etwas blauäugig fordern. Bei 50.000 Mitgliedern müsste jeder nur 1400 € spendieren und die Anteile wären in Mitgliederhand. Ich wäre bei dieser Fußball-“Genossenschaft“ dabei, fürchte aber, dass die Mehrheit finanziell überfordert wäre oder doch ein viertel Liter blauweißes Herzblut fehlt. Überhaupt Blut: Mit ein bisschen Blutspenden, wie einstmals bei einem Köpenicker Verein, als dieser kurz vor der Pleite stand, wäre es nicht getan. Dazu haben die früheren Verantwortlichen von Schiller über Klinsmann bis zu Bobic den Karren viel zu tief in den Dreck gefahren…

Neues zum Berliner Weg

Die Herthafans sind sich einig: Der vom verstorbenen Präsidenten ausgerufene Berliner Weg ist alternativlos. Einerseits aus finanziellen Gründen, andererseits ist er identitätsstiftend, was eine ungeahnte Einigkeit aller Herthaner zur Folge hat.

Wie steht es aber mit dem Berliner Weg nach dem Aus für Trainer Dardai, der in der letzten Saison so viele junge Wilde aus der Hertha-Akademie einsetzte? Geht der neue Trainer Fiél diesen Weg weiter?

Ein paar statistische Daten können erste Hinweise zur Beantwortung der Frage geben.

Die Fußball-Woche veröffentlicht am Saisonende immer nicht nur die Anzahl der absolvierten Spiele, sondern auch die Einsatzzeiten nach Minuten aller Herthaspieler. Wir rechnen mal kurz: 11 Spieler x 90 Minuten x 34 Spieltage = 33.660 Minuten. Auswechselspieler sind da inbegriffen, denn es stehen ja stets nur 11 Spieler auf dem Platz (es sei denn, es gibt einen Platzverweis, aber diese wenigen Minuten kann man vernachlässigen). Nachspielzeiten werden nicht mitgerechnet.

In der vorigen Saison 2023/24 standen Bence, Marton und Palko Dardai, Linus Gechter, Marius Gersbeck, Tim Hoffmann, Pascal Klemens, Ibrahim Maza, Tony Rölke, Derry Scherhandt und Marton Winkler 9828 Minuten auf dem Platz. Das ergibt eine Quote von 29,2 %. Das erscheint weniger als man rein gefühlsmäßig gedacht hatte. Aber die Stammspieler Reese, Tabakovic, Ernst, Kempf, Kenny und andere sind nun mal nur gelernte aber nicht gebürtige Berliner.

Überraschung: In den ersten drei Spielen der neuen Saison wurden 39,2 %, 32,2 % und 40,3 % , also im Durchschnitt 37,4 % Berliner Spieler eingesetzt. Wer hätte das gedacht! Wenn jetzt statt Kempf in Zukunft Marton Dardai oder gar John Anthony Brooks spielen sollten, würde die Berlin-Quote weiter steigen.

Fazit: Wir sind auf einem guten Weg, denn der Einsatz der Berliner Spieler wird über kurz oder lang erfolgreich sein.

Was die meisten übrigens gar nicht mehr wissen: Den Berliner Weg gab es schon mal, nur wurde er nicht so genannt: In der Saison 2002/03 hatten Paule Beinlich, Christian Fiedler, Michael Hartmann, Alexander Madlung, Thorben Marx, Zecke Neuendorf, Marco Rehmer, Andi Schmidt und René Tretschok 29,4 % der Hertha-Einsatzminuten. Und dass diese Mannschaft, ergänzt mit Kiraly, Marcelinho und anderen nicht erfolgreich war, kann wirklich niemand behaupten…

Allgemeine Ratlosigkeit

Das Gute zuerst: Nach dem dritten Spieltag der 2. Bundesliga liegt Hertha vor dem HSV und in Schlagdistanz (3 Punkte Rückstand) zu Aufstiegsplatz 2 und Relegationsplatz 3. Das Schlechte ist aber: Von sechs Halbzeiten konnte bisher nur eine, nämlich die zweite Hälfte beim HSV, als Hertha den Dino an die Wand spielte, überzeugen. Selbst gegen die bemühten, aber biederen Aufsteiger aus Regensburg hat Hertha nur in den ersten fünf und den letzten zehn Minuten (da aber nach dem Platzverweis in Überzahl) Dominanz ausüben können. Dass dann doch noch zwei Tore, beide nach Torwartfehlern, fielen, könnte allerdings auch heißen, dass Hertha Aufstiegskandidat bleibt. Denn wer solche extrem schwachen Spiele, die auch für den geneigten Fan eine Zumutung darstellen, noch gewinnt, hat eine große Chance oben mitzuspielen.

Der Ballbesitz von 64 %, die gute Passquote von 85 % und die absurd hohe Anzahl gespielter Pässe (509 : 284) gaukeln Überlegenheit vor, die im Spiel nicht bestand. Die Zahlen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die Innenverteidiger Kempf und Gechter in Zusammenarbeit mit Torwart Ernst sich den Ball aus Gelassenheit, Unfähigkeit bei der Spieleröffnung oder taktischer Anweisung teilweise minutenlang zupassten, obwohl sie vom Gegner teilweise überhaupt nicht unter Druck gesetzt wurden. Wenn nach zehnmaligem Hin und Her der Ball doch zum Torwart gespielt wurde und ein Regensburger sich bequemte auf diesen zuzulaufen, folgte sieben Mal im Spiel ein Notabschlag zum Gegner. D.h., dass der Gegner den Ball hatte und sein Spiel aufziehen konnte, was er bedeutend zielstrebiger als Hertha tat. Der Trainer müsste diese Zumutung verbieten, es sei denn, man führt hoch und will das Ergebnis über die Zeit retten. „Zeit von der Uhr nehmen“, wie es genauso modern wie unsinnig seit einigen Jahren heißt.

Das Fazit bleibt also immer noch bestehen: Der Trainerwechsel hat sich, wie von den meisten Fans und Dardai-Anhängern auch erwartet, bisher nicht ausgezahlt, wenn man spielerischen oder taktischen Fortschritt erwartet hätte. Man hat zwar vier statt null Punkten nach drei Spieltagen auf dem Konto, verfügte aber jetzt über eine eingespielte Truppe, die es vor einem Jahr nicht gab.

P.S.: Kempf soll angeblich nach Italien wechseln. Vierfacher Gewinn für Hertha: Ablösesumme, nicht mehr auf der Gehaltsliste, mit Marton Dardai wäre der Berliner Weg wieder stärker vertreten und das gefährliche, unsägliche Ballgeschiebe vor dem eigenen Strafraum hätte vielleicht ein Ende. Ich würde Kempf keine Träne nachweinen.

Das könnte was werden

Fünf Tore im Pokal ohne Reese und ohne, dass Tabakovic getroffen hat. Was wird eigentlich, wenn beide wieder in alter Frische dabei sind? Bei Reese kann das noch dauern und bei Tabakovic auch, weil er doch von Flanken abhängig ist, und die kann offenbar außer Reese niemand aus dem auch nach Eitschbergers Ausleihe nach Essen immer noch aufgeblähten Hertha-Kader schlagen. Aber so geht`s ja offensichtlich auch: Wenn Zeefuik weiterhin Steckpässe der Extraklasse (vor dem 2:1) spielt, Maza sicher vollstreckt, Winkler seine Schnelligkeit beim Konter ausspielen kann, Niederlechner eiskalt abstaubt und Scherhandt sich nicht verfummelt, sondern geistesgegenwärtig einschießt, dann kann Tabakovic auch weiter an Pfosten (gegen Paderborn) oder Latte (gegen Rostock) schießen. Aber Fluppe wird schon wieder treffen, wenn er denn bei Hertha bleibt, was aber momentan ganz gut aussieht. Überhaupt ruht der Transfersee still. Gut so. Noch drei, vier Ausleihen oder Transfers und ein aufstiegsfähiger Kader steht. Aber den hatte der HSV in den vergangenen sechs Jahren auch. Um den Aufstieg mitzuspielen, heißt nicht am Ende auch wirklich aufzusteigen.

Die zweite Halbzeit im Spiel gegen den HSV offenbarte, dass vieles möglich ist. Man kann sich kaum erinnern, dass Hertha einen starken Gegner auswärts so an die Wand gespielt hat, wie Hertha in der zweiten Halbzeit den HSV. Der Ausgleich kurz vor Schluss war folgerichtig.

Was heißt das für das kommende Heimspiel gegen Jahn Regensburg? Gar nichts! Dass die Regensburger Fußball spielen können, haben sie im Pokalspiel gegen Bochum gezeigt. Als einzige einen Bundesligisten zu eliminieren, kommt nicht aus heiterem Himmel. Ein Sieg ist aber Pflicht, wenn man in der Hochrechnung (30 Punkte bis zur Winterpause) nicht aussichtslos zurückfallen will. Und Druck hat Hertha in der Vergangenheit nicht immer vertragen. Aber seien wir optimistisch. Am Sonnabend kommt der erste Dreier.

Herthas Spar-Kader

Eigentlich ist es mir ganz recht, dass es in dieser Transferperiode statt 40 (wie im Vorjahr) erst ca. 20 Bewegungen gegeben hat. Nun gut, bis zum 31. August ist noch genug Zeit, um die schöne Bilanz zu versauen, aber im Großen und Ganzen scheint Herthas Kader fix zu sein. Der Vertrag mit Aymen Barkok lief aus und wurde glücklicherweise nicht verlängert. Der ewige Peter Pekarik wird offenbar trotz großer Europameisterschaft seine Karriere doch beenden, obwohl es anderslautende Äußerungen gab. Torwart Robert Kwasigroch wurde nach Düsseldorf verliehen, obwohl er dort sicher nicht mehr Spielpraxis als bei Hertha sammeln kann. Bence Dardai versucht sein Glück in Wolfsburg. Wohl bekomm`s. Der schon verliehene Suat Serdar wurde für ein paar Milliönchen sogar nach Verona verkauft, unterm Strich natürlich mit Verlust, aber das mehrere-Millionen-Gehalt wird eingespart. Augustin Rogel kann sein Glück durch eine Leihe nach Porto Alegre in der Nähe seiner Heimat versuchen. Verliehen, weil sie niemand kaufen will, wurden auch Wilfried Kanga nach Cardiff und Kelian Nsona nach Emmen. Tony Rölke ging nach Holland und Nachwuchstalent Tim Hoffmann soll ein Jahr Spielpraxis bei Erzgebirge Aue sammeln. Das könnte klappen.

Als Zugänge sind einige gestandene Spieler zu vermelden, die Hertha im besten Falle sofort helfen können und einige Jungspunde aus der Akademie, die eher bei Dardais nächster Trainermission eine Chance bekommen werden.

Julian Eitschberger kommt von seiner Ausleihe zurück und verstärkt die Außenverteidiger-Position. Luca Schuler aus Magdeburg wird Ergänzungsspieler im Angriff bleiben, es sei denn Tabakovic geht.

Kevin Sessa aus Heidenheim soll auf der 8 oder 10 das Mittelfeld kreativ bereichern. Für Michael Cuisance, der aus Osnabrück kam, gilt das gleiche. Königstransfer Diego Demme zeigte in den ersten beiden Spielen bereits, dass er der von den Mitspielern stets gesuchte Sechser ist, der Toni Kroos für Arme. Ansonsten bekam Oliver Rölke einen Vertrag bis 2027 und die Nachwuchsspieler Julius Gottschalk, Selim Telib und Lius Trus sind auf der Hertha-Website ebenfalls als Kadermitglieder genannt.

Ebenfalls dort noch gelistet ist Mysiane Maolida, der doch eigentlich schon im Nahen Osten sein Glück versuchen soll.

Insgesamt umfasst das gesamte Team also 35 Akteure, die alle Geld verdienen, ob wenig (wobei die Frage ist, ob ein sechsstelliges Jahresgehalt als wenig bezeichnet werden kann) oder viel, d.h., mehr als eine Million im Jahr wie bei Kempf, Kenny, Reese, Tabakovic, Demme und vielleicht noch einigen anderen. Ein Sparkader, der unter Berücksichtigung der immer noch katastrophalen Finanzlage Herthas eigentlich ganz anders, nämlich bedeutend kleiner aussehen müsste, ist das sicher nicht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Hertha Ende 2025 die 40-Millionen-Anleihe zurückzahlen muss. Insofern wird die Aussage von Tom Herrich verständlich, der den Aufstieg als alternativlos bezeichnete. Ohne die Fernsehmillionen aus der ersten Liga droht weiterhin die Insolvenz. Aber eventuell verlassen ja in den kommenden 14 Tagen noch einige Großverdiener das noch nicht gesunkene Hertha-Schiff. Die zweite Halbzeit gegen den HSV machte wieder Mut, dass Hertha zumindest um den Aufstieg mitspielen kann. Das machte der HSV übrigens auch in den vergangenen sechs Spielzeiten…