Maracana – Vom Mythos zur FIFA-5-Sterne-Arena

Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so: In meiner Kindheit konnte ich fast alle deutschen Stadien nach wenigen Sekunden am Fernsehschirm identifizieren. Das Niedersachsenstadion mit der flachen Tribüne und dem gewellten Dach zwischen backsteinernen Randtürmen, das Rund des Neckarstadions, dessen Ränge in einen unverwechselbaren Winkel emporwuchsen, die beiden grauen Wohnhäuser hinter dem Tor an der Grünwalder Straße in München, die Baumreihe, die das Stadion „Rote Erde“ begrenzte, das Berliner Olympiastadion mit der Betonwand, die den Innenraum von den Rängen durch einen Wassergraben abgrenzte (den ich nur ein Mal, nach einem unglaublichen Wolkenbruch, kurzzeitig mit Wasser gefüllt sah), den „Bökelberg“, mit seinen steilen Stehplatztribünen hinter den Toren…

Diese Zeiten, in denen man die Fußballstadien sogar am Klang der Geräuschkulisse unterscheiden konnte, sind endgültig vorbei. Das moderne Stadion, für dessen Planung statt eines Architekten ein Ingenieursbüro benötigt wird, ist viereckig, praktisch, gut. Das Stadion ist überdacht, wer will beim „Event“ Fußball schon beim Zusehen nass werden? Stehplätze sind nicht vorgesehen, der Planer kann oder will sich nicht vorstellen, dass es vor allem jüngere Menschen gibt, die lieber stehen als sitzen. Es finden schließlich auch Rockkonzerte in bestuhlten Kongresszentren statt. Stimmung spielt bei der Planung keine Rolle.

Das Maracana-Stadion in Rio war immer der Inbegriff des größten Stadions der Welt. Die 200.000 von 1950 bei Brasilien gegen Uruguay waren so etwas wie die Lichtgeschwindigkeit in der Physik: Mehr geht nicht. Hitler wollte für die Olympischen Spiele 1936 ein Stadion für eine Million Zuschauer bauen lassen. Der Architekt March war so frei, dem Führer zu erklären, warum es sich dabei um eine größenwahnsinnige Schnapsidee handelte (wahrscheinlich formulierte er mit Rücksicht auf seine Gesundheit etwas sachlicher).  Einige Zeit gab es einen Konkurrenzkampf um die Ehre des größten Stadions zwischen Maracana und dem Hampden-Park in Glasgow, der auch 130.000 bis 150.000 Zuschauer fasste. Natürlich konnte man nur so viele Zuschauer im Stadion unterbringen, weil sich die Leute bei teilweise schlechter Sicht auf den Stehplatzrängen drängelten. Da standen teilweise drei Leute, wo heute einer seine Beine im Schalensitz ausstreckt. In den „neuen“ Hampden-Park passen noch 52.500 Menschen…

Und jetzt also auch Maracana: 78.000 Sitzplätze, die natürlich viel teurer sein müssen als die Stehplätze (zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: gut verdienende Mittelschichtklientel im Stadion haben und problematische Schichten mit weniger Geld ausgrenzen – kein Zufall, sondern geplant), ein Stadion, das seinen Charakter nach dem Abriss und Neuaufbau (mit einigen Fragmenten der alte Fassade für Nostalgiker) verändert, an alle Stadien dieser Welt angepasst hat. Das alte Dach wurde natürlich auch abgerissen. Am Erhalt von Hergebrachtem kann man nichts verdienen. Die deutsche Ingenieursfirma hat jetzt das übliche Membrandach konstruiert, das wie das achte Weltwunder angepriesen wird, obwohl es mittlerweile dutzendfacher Standard ist. Und dann behauptet der völlig ahnungslose oder naive oder bösartige leitende Ingenieur, dass das Maracana nichts von seinem Mythos verloren habe. Leider irrt der Mann. Es hat nichts davon behalten und ist ganz einfach nur noch ein modernes, funktionales Stadion aus dem FIFA-Pflichtenheft einer WM…

 

 

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