Wenn man zum Olympiastadion fährt, wohlgemerkt dem Berliner, nicht dem Münchener, und gefühlte 80 % der sich im S-Bahn-Waggon drängelnden Menschen offensichtlich Bayern-Fans sind, und dies auch arrogant den Gegner verunglimpfend herausposaunen, kommt man schon ins Grübeln. Wo kommen all’ diese Roten her? Die reisen doch nicht aus München an, schon aus Sorge, nach überqueren des Weißwurscht-Äquators nur unangemessene Speisen und Getränke angeboten zu bekommen. Aber überall in Deutschland scheint sich in den letzten Jahrzehnten der weiß-rote Bayern-Bazillus ausgebreitet zu haben, wie die Zika-Mücke in Brasiliens Abwasserkanälen. Offensichtlich handelt es sich bei diesen Menschen um entwurzelte arme Seelen, die abgesehen vom wochenendlichen Bayern-Sieg, nicht viel Freude am Leben haben.
Natürlich habe ich als kleiner Junge auch die Sechziger auf ihrem Europapokaltriumphzug 1964/65 fasziniert vor dem Fernsehgerät begleitet, genauso wie 1966 die Dortmunder Borussen und ein Jahr später die Bayern. Aber man wird doch nicht Fan einer Mannschaft, dessen Heimstätte 600 km entfernt liegt, nur weil diese Mannschaft immer gewinnt! Oberflächlichkeit in Zeiten der Globalisierung (Chinesen als Fans von Manchester United!), der Drang, stets auf der Seite der Gewinner der Geschichte zu sein, unabhängig von Herkunft und Beziehung zum Verein (niemand der nicht Hannoveraner ist, würde auf die absurde Idee kommen, Hannover 96 auf ein Auswärtsspiel nach Ingolstadt zu begleiten) und die Unfähigkeit vieler Menschen auch mal durch ein vierzig Jahre dauerndes Tal der Tränen zu gehen und trotzdem seinem Verein treu zu bleiben, sind wohl die Ursachen für die Event-Fan-Unkultur der europäischen Spitzenvereine. Seit Nick Hornby wissen wir, dass ein echter Fan auch leiden können muss. Ich würde gerne wissen, wie viele der Bayern-Schreihälse vom letzten Sonnabend noch „Fans“ wären, wenn Bayern drei Jahre hintereinander nur Dritter bis Fünfter werden würde. Wahrscheinlich würden sich viele Rot-weiße Atletico Madrid anschließen, weil sie da die Farben nicht wechseln müssten.
Apropos Atletico Madrid: Erstmals in fünfzig Jahren Europapokal am Fernseher drücke ich einer deutschen Mannschaft nicht bedingungslos die Daumen. Klammheimliche Freude im Gedenken an die Schmähgesänge in der S-Bahn könnte ich bei einem Ausscheiden der Bayern im Halbfinale nicht ausschließen…