Der 50. Geburtstag und das Zeitzeugendilemma

Endlich war am Sonnabend, den 24.8., die seit einem Jahr nervende Dauergeburtstagsberieselung der Fußball-Bundesliga mit dem echten 50. Geburtstag beendet. Knapp 300.000 Zuschauer waren am 24.8.1963 in den Stadien, was bedeutet, dass aus biologischen Gründen noch etwa 100.000 Menschen übrig geblieben sind, die sagen können: „Ich war dabei!“

Einer davon bin ich.

Obwohl in letzter Zeit immer häufiger vom Zeitzeugendilemma (Angaben über Ereignisse, die jemand genau so erlebt zu haben glaubt, die aber nachweislich falsch sind oder gar nur aus Erzählungen stammen) die Rede ist, versuche ich mal, ein Bild von der damaligen Zeit zu zeichnen.

Mein Vater fuhr mit mir und Skatfreunden zu fünft im VW-Käfer (B-HN 811) auf verschlungenen Wegen von Steglitz zu einer Nebenstraße der Heerstaraße, der Rauschener Allee. Wir konnten dort problemlos vor dem Eckgrundstück, auf dem die Trümmer aus dem 2. Weltkrieg noch nicht abgeräumt waren, parken. Dieses Grundstück hatte den unschätzbaren Vorteil, dass man nach Spielende vor der Heimfahrt in Ruhe abschlagen konnte, was man an Getränken von den fliegenden Händlern, die damals mit Schultheiß-Bier, Cola und Fanta sowie Zigaretten und Eis durch die Reihen zogen, gekauft hatte.

Der Eintritt kostete für Schüler eine Mark, für Erwachsene 4 Mark (Oberring gesamt und Unterring Kurve). Weil Hertha nicht auf 60.000 Zuschauer vorbereitet war (Dauerkarten und sogar Vorverkauf gab es damals nicht), konnte mein Vater ohne zu bezahlen ins Stadion gehen. Da die Plätze nicht nummeriert waren, füllte sich das Stadion immer nach dem Prinzip „Früher Vogel hat den besten Platz“ vom Oberring Mitte ausgehend bis zu den Kurven. Im Gegensatz zu heute, wo die Fans im Unterring die Ostkurve zuerst füllen, blieb sie damals, weil es ja die Plätze mit der schlechtesten Sicht sind, bis zum Schluss leer und nur wenn über 70.000 Zuschauer kamen, waren auch die Kurven im Unterring voll.

Da mein Vater nicht zur Spezies der Frühvögel gehörte, saßen wir am 1. Spieltag etwas unterhalb der Uhr in der Westkurve des Olympiastadions. Nürnberg kam immerhin mit Weltmeister Morlock. Andere Spielernamen, einschließlich denen von Hertha BSC, kannte ich nicht, was sich aber bald ändern sollte. Der Name von Torwart Tillich war mir zuerst präsent, weil er öfter im Mittelpunkt des Geschehens stand und das Vertrauen in seine Fähigkeiten im Umkreis der Anwesenden nicht gerade unermesslich war. Seine Spezialität war angeblich, den Ball durch Hände und Beine rutschen zu lassen. Eine üble Verleumdung, wie ich im Laufe der Saison erfahren konnte, obwohl der beschriebene Vorgang zwei, drei Mal bittere Realität wurde: Ein „Tillich-Tor“.

Im Stadion gab es keinerlei Werbung, weder auf Banden, noch bei Durchsagen oder auf der guten, alten, grauen 1936-er Umklapp-Anzeigetafel. Die Mannschaftsaufstellungen wurden von Stadionsprecher Waberowski einfach nur verlesen und nicht, wie heute üblich, brüllend zelebriert. Ansonsten wurden über die Lautsprecheranlage nur noch die Kennzeichen falsch parkender Autos, verbunden mit der recht unpädagogischen Drohung, diese alsbald „umzusetzen“, durchgesagt. Manchmal wurde auch brennendes Licht oder laufender Motor gemeldet, was stets einige Zehntausend zum schadenfrohen Lachen animierte. Ansonsten gab es pro Spiel zwei bis drei Kinder, die sich verlaufen hatten und auf der Polizeiwache abzuholen seien. Ich weiß bis heute nicht, wo sich diese omimöse Wache befand oder befindet. Entweder passen Eltern heute besser auf ihre Kinder auf oder diese sind einfach intelligenter als die Vier- bis Fünfjährigen vor 50 Jahren: Seit Jahrzehnten habe ich keine Kinderverlustdurchsage mehr gehört…

Zur Bespaßung der Zuschauer gab es weder Sponsorenquiz noch Torwand- oder Elfmeterschießen gegen das Maskottchen sondern einzig und allein das Polizeiorchester unter Leitung von Herbert Domagalla, das vor dem Spiel, mit Sicherheit aber in der Halbzeitpause Marschmusik spielte. Und das zur Blütezeit von Beatles und Rolling Stones. Das Fußballpublikum war eben schon immer etwas konservativer, das wurde zumindest von Vereinsseite so eingeschätzt, denn gefragt wurde ja niemand.

Im Olympiastadion gab es zwar auch damals nur Sitzplätze, aber keine Schalensitze, sondern Holzbänke ohne Lehne, was nicht so unbequem war, wie es sich anhört. Zumindest hatten diese Bänke den Vorteil, dass sie wesentlich weniger Platz wegnahmen, als die nachträglich zwangsweise eingebauten Einzelsitze, so dass man durch die besetzten Reihen gehen konnte, ohne dass alle aufstehen mussten. Dass das Stadion weder Dach noch Flutlichtanlage besaß, muss nicht extra betont werden. Es gab über dem Oberring ein paar Scheinwerfer, die wahrscheinlich aus Luftabwehrbeständen übrig geblieben waren (der 2. Weltkrieg war erst 18 Jahre vorbei, weniger als der Mauerfall bis heute!) und das Stadion in ein schummeriges Amateurverein-Trainigsplatzlicht tauchten.

Über die üblichen Service-Verschlechterungen der öffentlichen Verkehrsmittel wie S-Bahn und Bus (der fuhr damals bis direkt vor den Eingang) muss man kein Wort verlieren, das entspricht dem Zeitgeist. Erwähnenswert vielleicht noch, dass es vor oder hinter den Kassen selbstverständlich keinerlei Kontrolle von Taschen oder Personen gab, man konnte mitbringen, was man wollte, heute undenkbar…

Nur eines hat sich in fünfzig Jahren nicht geändert: Wenn Hertha ein Auswärtsspiel gewinnt, strömen die Massen zum nächsten Heimspiel zu „ihrer“ Hertha, verlieren die blau-weißen ein Heimspiel, heißt es in Weddinger Hochdeutsch: “Nie wieda jeh ick zu diese Flaschen…“

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