Die Ultras sind im Fußballstadion eine relativ neue Gruppe. Einst in Italien in Mode gekommen, gibt es sie unter dieser Bezeichnung seit einigen Jahren auch in Deutschland. Sie bereichern die Stadionatmosphäre durch zum Teil witzige Choreographien und Gesang. So weit, so gut. Aber gab es früher, in den Sechziger- und Siebzigerjahren eigentlich keine Stimmung im Fußballstadion? Herrschte eine Konzertatmosphäre, bei der man das leise Hüsteln aus dem gegenüberliegenden Oberring schon als Ausbruch unkontrollierter Emotion empfand? Als jemand, der grundsätzlich, ohne nach Wetter, Gegner oder Sinn zu fragen, seit 1963 ins Stadion geht, egal ob 600 Zuschauer (Tasmania-Gladbach 0:0) oder 88.000 Zuschauer (Hertha-Köln 1:0) dabei sind, kann ich mit ruhigem Gewissen behaupten, dass Hysterie, Wahnsinn und Lärm auch ohne Ultra-Choreographie und hauptamtlichen Megaphon-Einpeitscher schon immer Bestandteil der Stadion-Atmosphäre waren. Ein nicht unwesentlicher Teil der Ultras scheint jedoch in Unwissenheit dieser Tatsachen sich und ihre Inszenierungen für das eigentliche Event und das nebenher ablaufende Fußballspiel nur als Aufhänger für die Darstellung ihrer eigenen Großartigkeit anzusehen. Dass es vielen gar nicht um Fußball geht, sieht man daran, dass die Einpeitscher oder Vorsänger 90 Minuten mit dem Rücken zum Spielgeschehen agieren. Kein Interesse oder sehen sie sich als Märtyrer („Einer muss es ja machen!“)? Riesige Fahnen, die nicht nur beim Torjubel, sondern teilweise während des gesamten Spiels geschwenkt werden, verdecken die Sicht für viele Fans. Ist die Sicht auf das Spielfeld egal, Hauptsache die Fahne weht im Wind? Bei Protesten, wenn es um die Sache aller Fußballanhänger (Anstoßzeiten) oder die eigenen Belange geht (Pyrotechnik, Kontrollen…) bestraft man die eigene Mannschaft mit Liebesentzug, indem man später ins Stadion strömt oder die Anfeuerung verweigert. Emotion nicht spontan, sondern als kopfgesteuerte Äußerung?
Die Ultras fordern den Dialog! Völlig in Ordnung – sprechen ist immer gut. Aber für wen sprechen die Ultras eigentlich? Doch nicht für die Mehrheit der Zuschauer. Die meist in den Kurven, bzw. hinter dem Tor stehenden Ultras (Kurven gibt es ja kaum noch), machen ungefähr ein Viertel der Zuschauer aus. Dieser Anteil bleibt in etwa gleich, denn dass es sooo toll mit der ewigen Treue von vielen Ultras nicht ist, sieht man daran, dass bei schlechtem Wetter, an verkaufsoffenen Wochenenden, wenn Sebastian Vettel in der Stadt ist oder der eigene Verein dreimal hintereinander nicht gewonnen hat („Scheiß-Millionäre“), nicht nur der „normale“ Zuschauer zu Hause bleibt, sondern auch die Zahl der Ultras dementsprechend abnimmt. Viele derjenigen, die in ihrem hormongesteuerten jugendlichen Überschwang der Gefühle (Ultras sind in der Mehrheit unter 30 Jahren) ihrem Verein ewige Treue schwören, werden in zehn Jahren die Spiele, wenn überhaupt, nur noch sporadisch vor dem Fernseher auf der Couch verfolgen, weil die Familie…, der Beruf…, das Wetter…
Nicht jeder ist eben ein Fan im Hornbyschen Sinne, der sich seinen Verein nicht ausgesucht hat, sondern sozusagen mit dem Verein ganz selbstverständlich, wie mit dem jährlichen Weihnachtsbaum oder der Geburtstagsfeier mit Freunden, lebt, da sind die Ultras ganz normaler Durchschnitt. Beweis? Wenn’s anders wäre, läge das Durchschnittsalter der Kurvenfans nicht in den Zwanzigern sondern bei ca. 50 Jahren.
Die Mehrheit der Zuschauer, die sich für das Spiel an sich interessiert, hat mit dem Ultras-DFL-Dialog wenig zu schaffen. Und wer legitimiert jemanden ultraintern, für den Rest zu sprechen? Hat der Lauteste, der Klügste oder der, der am längsten dabei ist, das Sagen? Demokratisch legitimiert scheint mir da niemand zu sein, und dass es schnell Zoff zwischen verschiedenen Fraktionen gibt, konnte man während der Spiele nach dem 12.12. feststellen, als die einen zaghaft anfeuerten und die anderen standhaft schwiegen. Von „Scheiß-Verrätern“ war schon die Rede. Hoffentlich wird durch die Winterpause das Mütchen soweit gekühlt, dass sich die verschiedenen Fraktionen nicht noch die Schädel einschlagen.
Insofern sollte man die Debatte wieder auf den Boden der Tatsachen holen: Die Ultras sind Anhänger/Fans, die, nur weil sie lauter und organisierter auftreten, nicht bessere Fans sind, als der Dauerkartenbesitzer in der Oberring-Geraden. Und wenn sich die Ultras darauf besinnen, dass es nicht um sie, sondern um das Fußballspiel geht, können auch wieder alle gemeinsam für (noch bessere) Stimmung im Stadion sorgen.