Das Phantomtor und warum es zum Fußball passt

Bei den meisten Sportarten geht es, einmal abgesehen vom Doping, das einige verträumte Hinterwäldler nicht in ihrer Marschtabelle zum Olympiasieg berücksichtigen, gerecht zu. Wenn ein Gewichtheber 300 kg stemmt und ein anderer nur 290 kg, hat er gewonnen. Wenn ein Läufer 10,0 sec und ein anderer 9,8 sec über 100m läuft, hat er verloren. Eindeutige Leistung, eindeutige Wertung. Beim Fußball ist alles anders. Man kann 75% Ballbesitz haben, 21:2 Torschüsse abgeben, 67% der Zweikämpfe gewinnen und trotzdem 0:3 verlieren (wenn der Gegner zu den beiden Torschüssen noch ein Eigentor erzielt). Also: Fußball ist der vielleicht ungerechteste Sport, den man sich vorstellen kann (wenn man Sportarten, in denen Punktrichter entscheiden, wie Turnen oder Dressurreiten, mal außen vor lässt, aber meistens gibt es mehrere Punktrichter aus verschiedenen Ländern, da gleicht sich der Betrug manchmal wieder aus).

Insofern ist die Aufregung um Kießlings Phantomtor völlig unbegründet. Es verdeutlicht nur geradezu mit dem Vergrößerungsglas, was tausendfach an jedem Wochenende auf allen Fußballplätzen der Welt geschieht. Warum soll ein fälschlicher Weise gegebenes Nicht-Tor schlimmer sein, als ein nicht gegebenes Nicht-Abseitstor? Jede falsch gegebene gelbe Karte, die später vielleicht zu einer ungerechten gelb-roten führt, jeder falsch erkannte Einwurf oder Eckball, kann ein Spiel ganz genau so beeinflussen, wie ein Tor, das keines ist. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, wegen eines falschen Abseitspfiffes eine Spielwiederholung zu fordern. Also eindeutig: Wiederholung = Schnapsidee!

Ein kurzer Blick in die Vergangenheit zeigt auch, wie absurd Wiederholungsforderungen bei Fehlentscheidungen sind: Deutschland verehrt nach mehr als einem halben Jahrhundert noch immer die Helden von Bern. Aber man frage mal die Ungarn, die vor dem Endspiel 1954 seit vier Jahren kein Spiel mehr verloren hatten: Ihr Spielmacher Puskas war im Finale nur zu 70% fit, weil er in der Vorrunde vom deutschen Spieler Posipal (bewusst ?, gar auf Anweisung?) brutal umgetreten wurde. Auch im Endspiel ging es, so ungern ich dies zugebe, höchst ungerecht zu. Das 2:2 würde heute kein Schiedsrichter der Welt mehr anerkennen, weil Schäfer nach einem Eckball Torwart Grosics im Fünfmeterraum in Grund und Boden rammte, so dass Rahn nur noch einzuschieben brauchte. Und ob kurz vor Schluss das vermeintliche 3:3 der Ungarn wirklich aus Abseitsposition erzielt wurde, ist noch nie wirklich belegt worden (im Gegenteil, das ZDF hat eine Kurzschnipsel-Szene veröffentlicht, die kein Abseits zu zeigen scheint). Wie ungerecht – aus Sicht der Ungarn, deren ältere Fußballfans sich darüber heute noch grämen, so wie die Deutschen über das Wembley-Nicht-Tor von 1966 oder die Engländer über Maradonas Hand Gottes.

Unendlich viele Beispiele ließen sich anführen und alle zeigen nur eines: Jegliche Aufregung über Fehlentscheidungen ist zwar verständlich aber völlig überflüssig, weil sie besonders zum Fußball schon immer dazu gehören und immer dazu gehören werden. Da kann man noch so viele Torrichter, Kameras oder Chips im Ball einführen. Wer sich über Ungerechtigkeiten im Fußball aufregt, sollte sich besser auf Schach konzentrieren – und selbst da fühlen sich Neurotiker benachteiligt, weil sie nicht links sondern rechts sitzen, wo der Scheinwerfer blendet oder das rote Kleid einer Frau im Publikum irritiert…

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